Aktion - Reaktion



Was entsteht aus den Wohnbedürfnissen der Menschen heraus? Was geschieht mit Baustrukturen, wenn man sie lange genug in die Hand der Bewohner gibt? Welche Prozesse setzen ein?
In Casablanca entstanden in der Kolonialzeit zahlreiche Wohnviertel, geplant von europäischen Architekten für die einheimische Bevölkerung. Im Stil der Moderne. Die Bürger haben sich diese Häuser angeeignet. Heute sind sie nicht mehr vom übrigen Stadtgefüge zu unterscheiden. Nicht einmal, wenn man sie sucht.

Kolonialer Siedlungsbau in Casablanca

Ausgelöst durch die französische Protektoratsmacht, die den Ausbau der Häfen vorantrieb, setzte in Marokko ab dem 20. Jahrhundert eine starke Industrialisierung ein. Casablanca wurde rasch zum wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Um zu arbeiten zogen immer mehr Menschen vom Land in die Städte. Wohnraum war schon bald nicht mehr vorhanden. Riesige Bidonvilles entstanden, am Stadtrand, nahe den Fabriken. Informelle Siedlungen, aus improvisierten Behausungen.

Um dem Wohnraummangel zu begegnen, verwirklichten die Franzosen zwischen 1920 und 1960 Stadtquartiere in ganz Marokko. Erste Planungen aus der Zeit zeigen Wohnsiedlungen, gebaut nach europäischen Grundsätzen, mitunter festgelegt in der Charta von Athen, jedoch angewendet auf die marokkanische Wohnkultur. Wohnhygiene, der Bau von kostengünstigem und menschenwürdigem Wohnraum mit mehr Wohnfläche pro Bewohner, v.a. für die zuströmenden Industriearbeiter, eine bessere Wasserversorgung, sowie optimale natürliche Beleuchtung und eine gute Befahrbarkeit der Straßen, dies, gestalterisch nach dem Vorbild traditioneller marokkanischer Altstädte.



Abb. 1: Planungseuphorie
Quelle: eigene Aufnahmen, aus der Ausstellung Colonial Modern - Aesthetics of the Past Rebellions for the Future


Nach dem zweiten Weltkrieg gerieten dieses Nachempfinden traditioneller Baukultur in Vergessenheit. Anstelle dessen traten nun die Ideen des sozialen Wohnungsbaus der Moderne. Die Frage war, wie diese den lokalen Anforderungen anzupassen seien. Zu dieser Zeit wurde der Begriff “Habitat” geprägt, welcher andeutet, dass lokale Wohnformen und Baupraktiken mit in die Planung einfließen sollen, sowie auf die kulturellen Eigenheiten der späteren Bewohner eingegangen wird. 

In Folge entstanden eine Reihe unterschiedlicher Wohnensembles. Einerseits kleinere, horizontal gegliederte Wohneinheiten als Einfamilienhaus, mit Innenhof. Andererseits wurden moderne Geschosswohnungsbauten realisiert. 
 


Abb. 2: realisierte Wohnsiedlungen
Quelle: eigene Aufnahmen, aus der Ausstellung Colonial Modern - Aesthetics of the Past Rebellions for the Future


Ein Beispiel: Die Siedlung Sidi Othman. Wohnensembles der schweizer Architekten André Studer und Jean Hentsch, welche dort 1951 Massenwohnbau mit Raumstrukturen nach lokalem Vorbild verwirklichten. Das Konzept beruht auf einer geometrischen Interpretation von traditioneller Gebäudeanordnung, und bekommt moderne Elemente wie Doppelbelichtung und große Fenstern zugewiesen. "Each dwelling will have a 'traditional patio', that is, a patio open to the sky and protected from public view, which functions as the center of the dwelling and which can be accessed from any of the rooms......." 



Abb. 3: Wohnkomplex in Sidi Othman nach Fertigstellung 1955
Quelle: Cohen / Eleb 2002: 341


Abb. 4: Gebäude der Siedlung Sidi Othman heute 
Quelle: Marion von Osten, auf movingcities.org


Und heute?

Die meisten der Patios wurden schon bald nach Bezug nach oben geschlossen, und in Wohnzimmer umgewandelt. Der Transformationsprozess startete direkt.

Wir schauen uns die Siedlung an. Zu finden ist sie nicht leicht. Seit Erbau hat sie sich in einer Weise verändert, die sie erscheinen lässt, wie ihr Umfeld. Kein Auffallen aus der Masse der Wohnsiedlungen in der Stadt. Informelle Bautätigkeiten mit heterogenem Erscheinungsbild als Ergebnis. Überall wurde und wird überbaut, aufgestockt, an- und ausgebaut. Die Bewohner passen die Wohnungen ihrer Lebensweise an. Patios werden überdacht, ein zusätzliches Zimmer entsteht. Ohne Genehmigung wird, sobald es die finanziellen Mittel zulassen, ein Geschoss ergänzt. Die Vergrößerung der Wohnfläche als Ziel. Räume werden ausgebaut, zusammengelegt. Wände aufgebrochen, Fenster wo nötig versiegelt oder eingebaut. Aus Küche wird Bad. Aus Türen Fenster. Und umgekehrt.
Gründe: mehr Privatheit, größere Wohnfläche, Schutz vor Hitze. Rein praktisch. Aber auch schön soll die Wohnung natürlich sein.
Diese Umformungen haben Folgen. Sind die Innenhöfe zugebaut, muss für dessen eigentliche Nutzung anderweitig Raum beansprucht werden. Pflanzen finden sich so vor den Gebäuden, auf dem Dach. Wäsche wird aus den Fenstern getrocknet. Viele Aktionen des täglichen Lebens finden nun außerhalb der Gebäude statt. Zu Verfügung stehender Raum wird in Besitz genommen. Angepasst an die vorhandenen Bedürfnisse. Kontinuierlich.
Transformiert werden jedoch nur private und vorhandene Räume. Der öffentliche Raum wird baulich nicht berührt. So ändert sich im Grundriss der Siedlung nichts.
Diese Transformationen der ehemaligen Wohnsiedlungen,lassen diese heute als dichte, städtische, eigenständische Quartiere erscheinen. Nicht mehr unterscheidbar von der übrigen Stadt. Urbane Plätze, Grünanlagen und Treffpunkte. Wohnen, Arbeiten, Gewerbe und Handel. Alle Funktionen einer Stadt werden erfüllt.
Vergleichbar sind diese Prozesse mit denen in der traditionell-orientalischenStadt. Das Besetzen von Raum, das kontinuierliche Transformieren dessen, im Sinne der Bewohner, ist also Tradition. Die Aneignungs- und Umformungsprozesse können demnach als Medinaisation beschrieben werden. 




Video: Schritte der Transformation
Quelle: eigenes Material



Plan type 

 

Im Wissen darum, gibt es von der Baubehörde in Casablanca einen sogenannten Typenplan. Eine Sammlung von Vorgaben und Regeln, gültig für die gesamte Stadt.
Er unterstützt das informelle Bauen, gibt jedoch einen Rahmen dafür vor. Stellt sozusagen einen allgemeingültigen Bebauungsplan dar, und formalisiert damit bestimmte Umbauten.
Einer Studie des ETH Studio Basel zufolge, finden sich darin Angaben, die beispielsweise erlauben, die Obergeschosse achtzig Zentimeter in den Straßenraum auskragen zu lassen. Wonach nicht nur mehr Wohnfläche in den oberen Geschossen entsteht, sondern auch die EG-Nutzung eine Art schützendes Vordach erhält. Auch vorgegeben werden unter anderem Anzahl der Fenster pro Geschoss und das Erscheinungsbild der zugehörigen Simse. Mittlerweile wird nicht mehr nur nach dem Typenplan umgebaut, auch Neubauten werden direkt nach dessen Vorgaben geplant.
Ein gleichförmiges Gesamtbild der Vorortsiedlungen, der Stadt, entsteht. Die Quartiere wachsen mit ihrer Umgebung zusammen. Lassen sich jedoch auch nicht mehr gegeneinander abgrenzen.


Abb. 5: Fassaden in Casablanca
Quelle: eigene Aufnahme





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